Kalenderblatt - Vertriebene

10. Mai/13. Juni 1946 -

Ankunft der ersten großen Vertriebenen-Transporte

Hameln-Pyrmont wird Zufluchtsstätte und neue Heimat für Tausende Ostdeutsche

Im Gefolge des vom NS-Regime ausgelösten Zweiten Weltkrieges kamen 1945 und in den Folgejahren Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Westdeutschland. Mit mehr als zwei Millionen Neubürgern hatte Niedersachsens Bevölkerung - nach der Schleswig-Holsteins - die zweithöchste Zuwachsrate zu verzeichnen.

Für Hameln brachte erst das Jahr 1946 den Höhepunkt des Zuwachses, hatte doch in den von der Roten Armee eroberten Gebieten östlich von Oder und Neiße die systematische „Ausweisung“ aller Deutschen eingesetzt. Allein mit drei Sammeltransporten im Mai, Juni und Dezember trafen rd. 4500 aus Breslau und Neumarkt vertriebene Schlesier in der Stadt ein.

Der dritte Transport blieb als „Kältetransport“ im Gedächtnis, weil die 1000 Beteiligten bei grimmiger Kälte eine einwöchige Fahrt in 52 ungeheizten Viehwaggons, ohne Verpflegung und unter unsäglichen hygienischen Bedingungen, hinter sich bringen mussten, der 35 Menschen, darunter Kinder, zum Opfer fielen.

 
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Schon vor dem Dezember-Transport waren in Hameln die Unterbringungsmöglichkeiten in Privatquartieren ausgeschöpft, so dass in Fabrikhallen provisorische Massenunterkünfte eingerichtet werden mussten. Neben den Tausenden von Neuankömmlingen aus dem Osten hatte Hameln schon seit längerem einige Tausend Evakuierte aus westdeutschen Städten zu beherbergen sowie immer noch viele Tausend ehemalige ausländische Zwangsarbeiter, die in den großen Kasernen und verschiedenen Barackenlagern auf ihre Heimkehr warten mussten.

Während in der vormals 32.000 Einwohner zählenden Stadt bis 1949 mit 13.000 Neuankömmlingen eine Zuwachsrate von immerhin 40% zu verzeichnen war, lag sie im Landkreis noch weitaus höher, zumeist bei 100% und mehr. Insgesamt verdoppelte sich im Kreis die Einwohnerzahl vorübergehend von knapp 50.000 auf fast 100.000 (etwa 13.000 zogen im Jahrzehnt danach wieder fort).

Die Schlesier stellten mit 30% die größte landsmannschaftliche geschlossene Gruppe. Über 40% kamen aus Pommern, Westpreußen und Ostpreußen. Bei den übrigen handelte es sich um Angehörige der deutschen Minderheit in Tschechien (Sudetendeutsche) und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern sowie um Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone (ab 1949 DDR).

Die Neuankömmlinge, insbesondere die Schlesier, unterschieden sich in Dialekt, Religion, Gebräuchen, Mentalität und sozialer Herkunft teils deutlich von den Einheimischen. Hameln-Pyrmont war konservatives, zutiefst protestantisches Bauernland, Hameln selbst ein Provinzstädtchen. Hierher kamen „auf einen Schlag“ tausende Städter, viele Großstädter aus regionalen Metropolen wie Königsberg und Breslau, geschäftstüchtige Handwerker und Kaufleute, versierte Facharbeiter und Fabrikbesitzer, Lehrer und Kulturschaffende, Menschen mit teils ganz anderer Lebensart, mehr als 10.000 Katholiken.

Dies und die zunächst kaum zu bewältigenden Alltagsprobleme, wie sie Unterbringung, Versorgung und Arbeitsbeschaffung mit sich brachten, führten zu teils starken Spannungen mit den Einheimischen. Gleichwohl gelang die Integration relativ schnell - aus anfänglich eklatanter Belastung war bald in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht eine Bereicherung für Stadt und Land geworden, deren Bedeutung für die Entwicklung der hiesigen Region bis heute kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.

Autor: Mario Keller-Holte

 

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