Erster Weltkrieg in Hameln und der Region

Aufsätze

Das Hamelner Kriegsgefangenenlager

Von Wilfried Altkrüger und Bernhard Gelderblom

 

Noch ehe der Magistrat der Stadt Hameln eine Anfrage des Kriegsministeriums wegen der Bereitstellung von wetterfesten Unterkünften für Kriegsgefangene auf dem Stadtgebiet (z.B. große Zelte und Schuppen) beantwortet hatte, begann das königliche Bauamt Ende August 1914 mit den Vorarbeiten zur Errichtung eines riesigen Lagers auf militäreigenem Gelände oberhalb des Reimerdeskamp.

Erst sechs Wochen nach Kriegsbeginn erfuhr die Öffentlichkeit durch eine kurze Notiz der Dewezet vom 11. September von den Plänen:

„Kriegsgefangene in Hameln. Es ist hier die amtliche Bestätigung eingetroffen, daß für Hameln die Unterbringung von zehntausend Kriegsgefangenen in Aussicht genommen ist. Für die Unterbringung ist der große Exerzierplatz vorgesehen.“

Als am Abend des 23. September 1914 der erste Transport mit 189 belgischen Gefangenen in Hameln eintraf, standen noch keine Baracken. Die Belgier mussten selbst Hand anlegen und provisorische „Erdhütten“ anlegen, in denen sie unterkamen.

Mitte Oktober kamen weitere Transporte mit Franzosen, Belgiern und Briten, so dass sich im Lager bereits 2.000 Gefangene aufhielten. Wenige Tage später war ihre Zahl auf etwa 7.000 hochgeschnellt. Neben Kriegsgefangenen wurden auch 1.700 Zivilgefangene, „17jährige bis 45jährige Leute aller Stände und Berufsarten, vom Künstler bis zum Stallknecht“, im Lager untergebracht, wie der Junglehrer und Vizefeldwebel der Wachmannschaft Adolf Brennecke berichtete.

Im November 1914, kurz vor dem Einbruch des Winters, konnten die Gefangenen in die fertiggestellten 84 Wohnbaracken einziehen.

Das Lager umfasste außerdem 20 Funktionsbaracken, allein vier für die Küche, weitere dienten als Wäscherei, für die Desinfektion, Post, als Lazarett und für Gefangenenarbeit. Die Gebäude standen längs einer breiten Lagerstraße, auf der die Gefangenen auch zum Appell antreten mussten. Das Bauamt gab die Kosten für die Bauten mit 1,45 Millionen Mark an. Hameln profitierte davon, weil 90 Prozent der Lieferungen und Leistungen auf das Stadtgebiet entfielen.

Im Spätherbst 1914 kamen 4.900 russische und serbische Kriegsgefangene. Ihr körperlicher Zustand war wegen mangelhafter Ernährung nach neun Tagen Fußmarsch grauenhaft. Russen und Serben wurden in den leer stehenden „Erdhütten“ untergebracht, die mit bis zu 120 Personen pro Hütte „großen Ameisenhaufen“ glichen. Bald brachen Cholera und Typhus aus. Die Lagerleitung trennte diesen nördlichen Lagerteil ab, so dass der Kontakt zu den Gefangenen westeuropäischer Herkunft eingeschränkt war. Ob und wie weit die Erdhütten bis Kriegsende durch Baracken ersetzt wurden, ist nicht bekannt.

Von Gleichbehandlung der Gefangenen konnte keine Rede sein. Während die Westeuropäer in den Genuss der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung kamen, die vorsah, die Gefangenen wie Angehörige des eigenen Heeres zu betrachten und „mit Menschlichkeit“ zu behandeln, galten die Gefangenen slawischer Herkunft als auf einer niedrigen Kulturstufe stehend, die mit primitiven Unterkünften zufrieden sein mussten.

Auf den in Stadtarchiv und Museum erhaltenen Fotos sind die „Erdhütten“ der Russen und Serben nicht zu sehen. Sie zeigen die Lagerwelt der westeuropäischen Nationen mit ihrer guten Unterbringung und den zahlreichen Freizeitaktivitäten, ein Hinweis darauf, dass die Fotos Propagandazwecken dienten.

Beim Hamelner Kriegsgefangenenlager handelte sich um ein Lager für Mannschaften und Unteroffiziere. Offiziere wurden grundsätzlich getrennt untergebracht und mussten auch nicht arbeiten. Die Wachleute waren Landsturmmänner, Wehrpflichtige im Alter von 17 bis 42 Jahren.

Das Lager wurde bald zur Attraktion Neugieriger aus Stadt und Land. Ein Wanderführer beschrieb den Weg zum Lager, Familien spazierten sonntags dorthin. Gastronomen bewarben sich um Imbiss- oder Getränkestände in der Nähe. Die Militärverwaltung gab daraufhin bekannt, das „schaulustige Publikum“ sollte dem Lager gefälligst fernbleiben und die Gefangenen nicht belästigen; überdies bestünde Lebensgefahr, wenn bei Fluchtversuchen eventuell scharf geschossen werden müsste.

Die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung sahen vor, dass kriegsgefangene Mannschaften zur Arbeit eingesetzt werden durften. Die Arbeiten sollten allerdings nicht „übermäßig sein und in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen stehen“. Zunächst arbeiteten die Gefangenen zu „landes- und volkswirtschaftlichen“ Zwecken, also auf Truppenübungsplätzen, im Straßenbau und der Moorkultivierung. Erst ab Frühjahr 1915, als sich Arbeitskräftemangel bemerkbar machte, stellte das Militär die Gefangenen auch privaten Unternehmen zur Verfügung. Russen schickte man bevorzugt in die Landwirtschaft.

Im Bezirk des X. Armeekorps nahm das Gefangenenlager Hameln eine zentrale Funktion als Stammlager für mehr als 60.000 Gefangene ein. Von hier aus wurden Gefangene auf eine schier unübersehbare Zahl von Arbeitskommandos im gesamten Regierungsbezirk Hannover verteilt.

Die Stadt Hameln beantragte ebenfalls die Zuweisung von Kriegsgefangenen. Ihre Beschäftigung beschränkte sich allerdings auf wenige Arbeitseinsätze, wie etwa den Räumdienst im Winter.

Als eine dänisch-russische Kommission des Roten Kreuzes im Oktober 1915 das Lager besuchte, standen die Baracken weitgehend leer. Die Kommission fand nur 1.100 Kriegsgefangene und 25 Zivilgefangene vor, weitere 75 Soldaten und 3 Zivilgefangene waren im Lazarett „gut aufgehoben“, vier Russen nach einem Fluchtversuch im Arrest interniert. Die übrigen 9.000 Gefangenen waren über diverse Arbeitskommandos verteilt, wo sie auch Kost und Logis erhielten. Die im Lager Verbliebenen konnten es sich in den vorhandenen Baracken „bequemer einrichten“. Wie die Kommission feststellte, war

„die Stimmung … trotzdem eine sehr gedrückte; zu den üblichen Klagen über Kost und Dolmetscher kam noch die hinzu, dass man den Kriegsgefangenen, die hier im Lager bleiben sollen und die bessere Stiefel haben, solche abnimmt, um sie denjenigen, die auf Arbeitskommandos weggeschickt werden sollen, zu geben. Die Zurückbleibenden sollen sich dann mit hölzernen Schuhen begnügen.“

Neben den Kriegsgefangenen gab es auch Zivilgefangene. Wir hören von ihnen zum ersten Mal im Dezember 1914. Nach einer Anfrage aus Hameln teilte die Stadt Holzminden mit, dass dort ein „Konzentrationslager“ für „verdächtige Zivilpersonen männlichen und weiblichen Geschlechts eingerichtet worden sei, welche die ausländische Staatsangehörigkeit besitzen“. Eine Heranziehung zur Arbeit finde nicht statt.

Bald wurden auch die Zivilgefangenen zur Arbeit angeboten. Die Arbeitgeber konnten sich die Internierten selbst aussuchen. Sobald ein Arbeitsvertrag abgeschlossen war, der den internierten Zivilgefangenen „vor Mittellosigkeit und Obdachlosigkeit für die Dauer des Krieges schützte“, wurde er aus dem Lager entlassen. Auch russische Kriegsgefangene konnten entlassen werden, sofern sie deutsche Wurzeln hatten, wenn sie einen Arbeitsvertrag abgeschlossen hatten, der Kost und Logis umfasste.

Gelegentlich flüchteten Kriegsgefangene von ihren Arbeitsstellen. Im Januar 1915 teilte die Polizeibehörde Hannover mit, dass 21 namentlich aufgeführte Russen „entlaufen“ seien. Die Polizei forderte die Bevölkerung zur Mitwirkung bei der „Zurückführung der Entwichenen“ auf.

Im Spätsommer 1916 war der Mangel an Arbeitskräften so stark gewachsen, dass die Inspektion der Kriegsgefangenenlager im X. Armeekorps die Landräte aufforderte, nur noch den dringendsten Bedarf zu melden. Von den Zuckerfabriken seien bereits für die Dauer der Kampagne 6.000 Gefangene angefordert worden. Von Firmen der Rüstungsindustrie häuften sich dringende Anträge, so dass sich die Frage nach einem Zurückziehen von Gefangenen aus der Landwirtschaft stelle.

Weil der Zustrom von Kriegsgefangenen mit Fortschreiten des Krieges geringer wurde, versuchte man verstärkt zivile Arbeitskräfte anzuwerben. Die Anwerbung im besetzten Belgien zu Beginn des Jahres 1915 hatte magere 21.000 Freiwillige erbracht. Auch die ab Mai 1915 für die industrielle Beschäftigung zugelassenen „zivilen“ Polen reichten nicht aus, den Mangel zu beheben.

Daraufhin hoben die Deutschen von Ostern 1916 bis Februar 1917 etwa 61.000 Belgier und 20.000 Franzosen zwangsweise aus. Wegen scharfer Kritik aus dem Ausland ging man danach wieder zur Anwerbung Freiwilliger über. Insgesamt wurden von 1915 bis 1918 rund 500.000 ausländische Zivilarbeiter aus Russisch-Polen und Belgien zum Teil unter Androhung von „Schutzhaft“ rekrutiert, ein Vorspiel zum Zweiten Weltkriegs, in dem millionenfach Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern nach Deutschland deportiert wurden.

Im Hamelner Lager kamen von 1914 bis 1921 rund 1000 Insassen ums Leben, die fast alle auf dem Gefangenenfriedhof am Wehl bestattet wurden. Die Mehrzahl starb in den Jahren 1917 bis 1919, als der Arbeitseinsatz expandierte und die Versorgungslage deutlich schlechter wurde. Während nach Kriegsende die britischen, französischen und belgischen Soldaten in ihre Heimatländer überführt wurden, liegen noch heute auf dem Friedhof Wehl 759 russische und serbische Soldaten begraben sowie ein Belgier, dessen Leiche versehentlich nicht exhumiert wurde.

 

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