Erster Weltkrieg in Hameln und der Region
Aufsätze
Die Errichtung eines Beutegut-Sammellagers am Hafen –
Ursprung des Hamelner Industriegebiets Süd
Von Wilfried Altkrüger und Bernhard Gelderblom
Über die Entwicklung der Hamelner Industrie während des Krieges liegen nur uns wenige Informationen vor. Nachdem die Vergrößerung der Garnison von 1500 auf 5000 Mann und der Bau des riesigen Kriegsgefangenenlagers zunächst befruchtend gewirkt hatten, dürfte die weitere Entwicklung in derselben Richtung verlaufen sein wie auch sonst im Reich. Zahlreiche Unternehmen stellten sich auf die Erzeugung von Waffen und Munition um. In den Betrieben, die weiter Konsumgüter herstellten, sank die Produktion und herrschten Rohstoff- und Arbeitskräftemangel. Alles, was nicht der Rüstung diente, wurde auf „Verschleiß gefahren“, namentlich die völlig überlastete Eisenbahn.
So nimmt es nicht Wunder, dass auch die wirtschaftliche Entwicklung Hamelns während des Krieges stagnierte. Es gibt allerdings eine Ausnahme.
Der Hamelner Schutz- und Handelshafen hatte nach mehreren Erweiterungen im Jahre 1914 seine heutige Form erreicht. Eine stadteigene Hafenbahn gewährleistete den Anschluss an das Eisenbahnnetz. Am Eingang zum Hafen hatten sich erste Firmen wie die Wesermühlen und die Hauptgenossenschaft angesiedelt.
Die Fluthamel war 1906-1909 auf Betreiben von ansässigen Industriellen von der Ohsener Straße bis zur Einmündung in die Weser zu einem schiffbaren Kanal ausgebaut worden. Aus dem Aushub hatte man am Nordufer der Hamel und parallel zum Hafen einen Hochwasserschutzdeich gebaut. Auf diese Weise wurde ein Gelände in der Größe von 50 ha erschlossen, das zur Ansiedelung von Industrie genutzt werden sollte. Am Südufer des Hamel-Kanals war auf 800 m Länge der Bau von Kaianlagen möglich. Bis Kriegsbeginn hatten sich dort eine Werft (Friedrich Richardt, ab 1919 Kaminski) und die Norddeutschen Automobilwerke (später Selve) etabliert. Der Ausbruch des Weltkriegs unterbrach vielversprechende Pläne.
Noch während des Krieges bemühte sich Bürgermeister Ado Jürgens um die Ansiedlung von Industrie. Er hatte 1916 Professor Süchting aus Hannover einen entsprechenden Auftrag erteilt, der u.a. Verhandlungen mit der AEG in Berlin führte.
Da der Stadt vom neu erschlossenen Gebiet lediglich 4,8 ha gehörten, nahm Jürgens die 1913 mit dem Ziegeleibesitzer Rese abgebrochenen Verhandlungen über den Ankauf seiner Ziegeleien an der Ohsener Straße mitsamt der Rese gehörenden Ländereien wieder auf.
Als Jürgens die städtischen Kollegien im November 1917 um Zustimmung zum Ankauf der Reseschen Liegenschaften bat, führte er zur Begründung an, die Stadt könne mit der Ziegelei nach Ende des Krieges vom erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. Auf den unbebauten Flächen könne Gemüse angebaut und eine Teilfläche vom städtischen Waisenhaus genutzt werden.
Bald darauf gingen die Grundstücke zwischen Ohsener Straße, Altenbekener Bahn und Hafen mit insgesamt 40,4 ha, die seit Kriegsbeginn stillgelegten Ziegeleien sowie die Wohnhäuser Ohsener Straße 17 und 37 nebst lebendem (4 Pferde) und totem Inventar zu einem Gesamtpreis von 840.000 Mark in den Besitz der Stadt über.
Der Hauptgrund für den Grundstückskauf war allerdings ein anderer. Seit Sommer 1917 hatte Jürgens mit der Kriegswirtschafts-AG verhandelt, die einen geeigneten Standort für ein Sammellager für Beutegut suchte. Nachdem die Verhandlungen zu einem „raschen und glücklichen Abschluss“ gebracht worden waren, konnte die Stadt im Mai 1918 der Kriegswirtschafts-AG ein großes Gelände im Hafengebiet verpachten und den Bau eines Anschlussgleises zur Hafenbahn zusagen.
Am 21. Juni 1918 beschlossen die städtischen Körperschaften, dafür bei der Sparkasse Anleihen über 422.179 Mark aufzunehmen. Damit konnten auch der Bau eines Anschlussgleises, die Beschaffung von Kränen und einer Eisenbahnwaage, die Erweiterung eines Schuppens sowie der Ankauf eines weiteren Grundstücks finanziert werden.
Ein Vollportalkran mit 5 Tonnen Tragfähigkeit war für den Umschlag von Massengütern vorgesehen und ein kleinerer Kran von etwa 1 ½ Tonnen Tragfähigkeit für den Stückgüterladeplatz am Hafen. Die Waage sollte ihre Kosten durch die anfallenden Gebühren decken, da „das Sammellager jeden Wagen wiegen lassen wird“.
Auf dem Gelände der Ziegelei an der Ohsener Straße übernahm die Kriegswirtschafts-AG das Ringofengebäude, den auf 65 Meter vergrößerten Ziegelschuppen, ein Wohnhaus und eine Freifläche von 35.000 m². Dort wurden Fässer und andere Leergüter gelagert, instand gesetzt, sortiert und verkauft. Auch Lokomobile und Landmaschinen sollten dort „aufbewahrt, ausgebessert und verkauft werden“. Am 1. Dezember 1918 wurde das „Demobillager“ um weitere 86.000 qm erweitert.
Die jährliche Pacht in Höhe von 33.000 Mark in den ersten 1 ½ Jahren (danach 24.000 Mark) erbrachte weitaus mehr als die Nutzung durch Ziegelei und Landwirtschaft. Vom Pachtertrag wurden 15.000 Mark für Lagerschuppen und Anschlussbahn verwendet, während der Rest für Verzinsung und Tilgung der aufgenommenen Anleihe diente.
Der Betrieb des Sammellagers wurde von einem Major und Hilfspersonal, darunter auch Frauen, gewährleistet. Der im November 1918 von der Demobilisierungs-Zentrale aufgelistete „Beauftragte des Kriegsministeriums 5 nebst Metallbergetrupp Maubeuge“ war ebenfalls hier tätig.
Das in Hameln gelagerte Beutegut stammte aus Nordfrankreich und Belgien. Mit dem Rückzug der deutschen Truppen ab März 1917 aus dem Frontbogen zwischen Arras – Bapaume – Péronne in die von belgischen und französischen Gefangenen und Zwangsarbeitern gebaute „Siegfriedstellung“ auf dem rechten Sommeufer konnten die Deutschen 13 Divisionen aus der vordersten Linie abziehen. Unter dem Decknamen „Alberich“ wurden 140.000 Einwohnern „evakuiert“ und 430 Ortschaften nach der Devise der „verbrannten Erde“ systematisch zerstört, ebenso wichtige Eisenbahn- und Straßenkreuze, Brücken und Brunnen. Alles militärische Material, Viehbestände und sämtliche landwirtschaftlichen Vorräte wurden abtransportiert.
Ernst Jünger schilderte seine Beobachtungen dazu am 11. März 1917:
„Alle Dörfer, durch die man kam, sahen aus wie große Tollhäuser. Leute stießen und rissen Mauern ein, saßen oben auf Dächern und schlugen alles kurz und klein. Obstbäume wurden gefällt, gesengt und vernichtet, Scheiben eingeschlagen, rings stiegen Rauchwolken hoch, kurz, es wurde eine Orgie der vollkommenen Zerstörung gefeiert. Überall wurde planmäßig nach dem Grundsatz gewütet, dass man dem Feinde nicht nur das Notwendige vernichten müsse, sondern auch alles, was überhaupt durch Menschenhand vernichtet werden kann. So sah ich im Schloßpark von Devise einige gefällte wunderschöne Palmen. Es war kein erhebender Anblick. So geht’s bis ganz hinten hin, jedes Dorf ein Trümmerhaufen, jede Straße unterminiert, jeder Brunnen vergiftet, jeder Baum gefällt, jeder Flußlauf abgedämmt, alle Vorräte und Metalle zurückgeschafft, jede Eisenbahnschiene abmontiert, jeder Telefondraht abgerollt, alles Brennbare verbrannt, kurz das Land, das nun besetzt werden soll vom vordringenden Gegner, ist schlimmer als die ödeste Wüste.“
Ein Jahr später, am 30. Oktober 1918, veröffentlichte die Dewezet einen vermutlich von der Obersten Heeresleitung formulierten Artikel „Wer zerstört Frankreich“, der sich gegen die „Greuelhetze“ in der ausländischen Presse über die Verwüstungen 1917 in Frankreich richtete und in dem nicht in Abrede gestellt wurde,
„daß unsere Truppen bei dem freiwilligen Rückzug auf die Siegfriedstellungen aus rein militärischen Rücksichten namhafte Zerstörungen an feindlichen Werten vornehmen mußten.“
Das „Demobilisierungs-Lager“ wurde im April 1921 geschlossen. Ein Teil der Fläche längs der Kuhbrückenstraße wurde ab 1. September 1920 an die „Weserwerke F. & G. Kaminski“ verpachtet, die hier eine Reparaturwerkstatt für Eisenbahnwaggons einrichtete. Im April 1921 pachtete Franz Kaminski eine weitere Fläche von 6.600 qm für den Waggonbau an. Kaminski ist bis heute auf dem Gelände ansässig. Die Werft hingegen musste nach einem Weserhochwasser, das riesige Schlickmengen in die Fluthamel spülte, aufgegeben werden.
Obwohl sich die sehr hohen finanziellen Investitionen der Stadt in das Gelände kurzfristig nicht auszahlten, wurden doch die Grundlagen für das bis heute wichtigste Hamelner Industriegebiet gelegt. Auf einem sehr großen Teil des Geländes entstand seit 1936 die Rüstungsfabrik Domag (heute Volvo). Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich die ABG (heute Volvo), die Stahlkontor Weser Lenze KG, die Stephan-Werke, Vogeley und andere Firmen an.

Karte des Industriegebiets Süd aus dem Jahre 1910. Quelle: Dewezet 24.9.1983
Das geplante Industriegebiet ist nach Süden von der „schiffbaren Hamel“ begrenzt. Am Südufer liegen „Schiffswerft“ und „Automobilfabrik“. Im Osten bildet die Altenbekener Bahn die Grenze. Diagonal durchschneidet die Ohsener Straße das Gebiet.
Der „Neue Hafen“, der 1914 fertig gestellt wurde, ist auf dem Plan schon als vorhanden eingezeichnet, darunter ein zweites Hafenbecken, das nie realisiert wurde. Der 1907/08 gebaute Hochwasserschutzdamm verläuft längs des Hafens und nördlich der Hamel. Er war Voraussetzung dafür, dass sich Industrie ansiedeln konnte.
Abgesehen von der im Winkel zwischen Kuhbrücken- und Ohsener Straße liegenden Ziegelei F.W. Rese, die 1914 stillgelegt wurde, und der Schiffswerft sowie der Automobilfabrik war das Gelände 1910 noch unbebaut.

Blick in den Hamelner Hafen entlang der Wesermühle
Quelle: Hameln im Jahre 1957

Bürgermeister Ado Jürgens
Quelle Stadtarchiv


Die 1909 gebaute Werftstraße. An ihr lagen die Schiffswerft und die Automobilwerke; hier das Denkmal für den Direktor der Selve-Automobilwerke,
Ernst Lehmann. Die folgenden Fotos: Gelderblom 2014

Die „alte“ Villa des Fabrikanten Franz Kaminski an der Werftstraße,
letzter Hinweis auf die ehemals benachbarte Schiffswerft

Die Kuhbrückenstraße –
gebaut zur Erschließung des Industriegebiets Süd 1912

Die Straße Am Damm – Erinnerung an den 1907/08 nördlich der Fluthamel
aufgeschütteten Hochwasserschutzdamm

Die als Kanal ausgebaggerte, ehemals schiffbare Fluthamel,
von der Fußgängerbrücke aus gesehen